Offener Brief des Vereins Sichtwechsel e.V.

Am 14. Dezember 2016 schrieb der Verein Sichtwechsel e.V. an die Zuschauerredaktion des ZDF bezüglich Gewaltdarstellungen in ausgestrahlten Filmen, und Werbung für diese Filme durch Trailer in anderen Sendungen.
Die Antwort der ARD kam am 19. Dezember, beide Briefe finden Sie untenstehend und auch als pdf  zum Herunterladen.

Wir veröffentlichen diese Korrespondenz mit freundlicher Genehmigung von Frau Wuss, Verein Sichtwechsel e.V.

Sichtwechsel e.V. an ZDF

Antwort der ARD an Sichtwechsel e.V.

 

Brief des Vereins Sichtwechsel e.V. an die Zuschauerredaktion des ZDF

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir sind ein Verein von Filmschaffenden, Kulturwissenschaftler*innen und Psycholog*innen, der sich seit seiner Gründung mit den negativen Auswirkungen von Gewaltdarstellungen in Film, Fernsehen und PC-Spiel befasst. Wir wenden uns an Sie wegen Veränderungen in Ihrer Programmgestaltung, die wir für sehr gefährlich und besorgniserregend halten. Nach unserer Einschätzung hat die Häufigkeit der Ausstrahlung von Kriminalfilmen und vor allem der Trailer für diese Filme in Ihrem Sender zugenommen. Außerdem hat sich die Art der Darstellung von Gewalthandlungen verändert. Letztere sind in der Regel brutaler in der Ausführung und drastischer, oft auch effektvoller inszeniert als noch vor einigen Jahren.
Nach unserem Verständnis sorgt jede filmische Darstellung im Erlebensprozess des Zuschauers dafür, dass die Reizangebote aus der realen Lebenswelt und der medialen Fiktion im Zuge der Geschehenswahrnehmung untrennbar miteinander verschmelzen und dabei wie eine neue Realität wirksam werden, die im Bewusstsein des Publikums ihre Spuren hinterlässt. Die Kriminalfilme lenken die Aufmerksamkeit des Publikums mit Vehemenz auf destruktive Kräfte innerhalb der Gesellschaft, wobei viele der dargestellten Gewaltakte zudem völlig unnötig sind, um die Situationen der Handlung für den Zuschauer verständlich zu machen. Jede realitätsnahe Darstellung einer Gewalthandlung im Alltagsbereich unseres Lebens schafft eine neue Realität, in der die Gewalthandlung und der sie ausübende Täter große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Eine solche überhöhte Aufmerksamkeit sollte man weder den Gewaltakten noch den Tätern geben, und schon gar nicht sollte man im gebührenfinanzierten öffentlich rechtlichen Fernsehen routinemäßig eine Überwucherung anderer Programmanteile durch solche Produktionen zulassen.

Auch wenn es dort um fiktive Szenarien geht, stehen ja im Zentrum des Krimi-Genres ausnahmslos gesetzeswidrige Handlungen, deren Akteure für Menschen mit einer normalen moralisch-ethischen Grundhaltung nicht als Vorbilder für eigene Konfliktbewältigung dienen können. Wie Erfahrungen zeigen, können bestimmte Gewaltdarstellungen für potentielle Straftäter eher Inspirationen für ihre eigenen Straftaten liefern. Man kann leider auch nicht annehmen, dass alle Eltern ihre Kinder davon abhalten, solche Filme zu sehen. Die Wirkung auf Heranwachsende ist aber bekanntlich noch weit schlimmer als auf Erwachsene. Durch die häufige Ausstrahlung solcher gewaltträchtigen Darstellungen des zivilen Alltags entsteht zudem bei den Zuschauern ein verzerrtes Bild von der Realität, was bei den einen zur Abstumpfung gegen Brutalität in aktuellen Lebenssituationen führen kann und bei anderen den fatalen Eindruck erzeugt, dass wir von Verbrechern umgeben sind. Wer sich am Abend durch die Angebote der unterschiedlichen Fernsehsender zappt, wird, wenn er auf den Bildschirm blickt, ja dabei ohnehin ständig mit gezogenen Schusswaffen konfrontiert. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen muss diese Trends für sich nicht übernehmen oder gar zu übertrumpfen suchen. Es gibt heute auch eine Verantwortung dafür, die Flüchtlinge aus anderen Kulturen, die das Fernsehen oft als Mittel nutzen, um die Landessprache zu erlernen, nicht durch falsche Fernsehwelten zu irritieren, die sie in bestimmtem Maße doch als repräsentativ für das Leben jener Wertegemeinschaft ansehen, an die sie sich anpassen möchten.

Was die Werbetrailer betrifft, so fühlen wir uns davon massiv gestört und unvorhersehbar mit filmischen Gewaltakten konfrontiert, die wir gar nicht sehen wollen. An einen Briefkasten kann man ein Schild anbringen, das das Einwerfen von Werbung verhindert. Wie, bitte schön, soll sich ein Fernsehkonsument vor solcher Art unerwünschter Werbung schützen?

Im Wissen um die negativen Folgen der Wirkung filmischer Gewaltakte, und in großer Sorge um die Entwicklung unserer Zivilgesellschaft bitten wir Sie daher darum:

  1. Die Produktion und Ausstrahlung von Kriminalfilmen deutlich zu reduzieren.
    (Einer pro Woche wäre völlig ausreichend, wobei ein Krimi am Sonntag, dem Tag, der
    vielen Familien die seltene Chance für Gemeinsamkeit gibt, schlecht platziert ist.)
  1. Den Anteil von Filmen zu erhöhen, in denen zukunftsfähige Lebenserscheinungen stärker zur Darstellung kommen, auch Menschen, die als Vorbilder für eine friedliche Konfliktbewältigung geeignet sind.
  2. Keine Werbetrailer für Kriminalfilme zu senden.

In Erwartung Ihrer Antwort verbleiben

mit freundlichen Grüßen

Leonija Wuss                          Claudia Laube                 Thomas Haudel

 

Antwort der ARD an den Verein Sichtwechsel e.V.

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