(Foto: HMKW)
Seit ich die Professur für Journalismus und Kommunikation 2018 an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (heute: Media-University) antrat, erhalte ich regelmäßig Spam Mails zu Männer-Themen. Vor allem Viagra wird mir immer wieder empfohlen; genauer, wurde mir lange Zeit empfohlen. Wir wissen, wie Micro-Targeting funktioniert und so kann man sich einen teilinformierten Algorithmus dahinter vorstellen, der für diese stereotypen Zuweisungen sorgt. Der Algorithmus ist lernfähig und geht mit der Zeit. Denn seit einiger Zeit – ich gehe in großen Schritten auf die 60 zu – bieten mir die Spam-Mails kein Viagra mehr an, sondern Medikamente oder Behandlungsmethoden für bzw. gegen Prostatitis. Kein einziges Mal erhielt ich Spam zu Menopause, Östrogenen oder auch nur Kosmetik. Anscheinend gehören weibliche Profs nicht in seine vorprogrammierte Vorstellungswelt.
Das wirkt lustig und ich amüsiere mich auch regelmäßig darüber, wenn ich den Nonsens aus dem Spam-Filter lösche. Aber das Phänomen hat weitreichende Folgen, derer man sich bewusst(er) sein sollte. So ist es eine meiner Aufgaben in der Lehre, den Studierenden zu vermitteln, was sie in Suchmaschinen finden und was nicht, worin überhaupt gesucht wird und wie sie ihre Suchen maximal optimieren können. Aber, dass natürlich „Relevanz“ bei Google & Co. etwas anderes bedeutet als thematische Relevanz im journalistischen oder gar wissenschaftlichen Sinne, sollte allgemein bekannt sein.
Danah Boyd, Gründerin von Data & Society, die lange für Microsoft in den USA gearbeitet hat und heute an der Georgetown University lehrt, hat 2018 auf der re:-publica in Berlin ihre Erkenntnisse zu diesem Themenfeld vorgestellt und warnt in ihren Publikationen davor, den Einfluss von Algorithmen auf öffentliche Diskurse und schließlich daraus abgeleitete Politik zu unterschätzen. Ich selbst machte vor einigen Jahren ungewollt ein Experiment zu diesem Themenfeld, als ich für einen Vortrag an der Universität Trier zur Ukraineberichterstattung nochmal Beiträge suchte, die 2014 zum Inhalt der Ausstellung „Im Osten nichts Neues“ gehörten. Die von mir kuratierte Ausstellung im Sprechsaal Berlin enthielt Beispiele aus Printmedien und Mitschnitte v.a. aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die eine Schlagseite belegten bzw. viele kleine Fehler, Korrekturen und wieder Fehler nachwies, die das Bild des Konflikts bis heute prägen. Für Details hierzu verweise auf den Fachaufsatz, der nach der Konferenz in Trier im Sammelband von Hans-Jürgen Bucher mit dem Titel „Medienkritik zwischen ideologischer Instrumentalisierung und kritischer Aufklärung“ 2020 erschien. Bemerkenswert für uns hier ist, was ich bei der einfachen Recherche in Suchmaschinen alles nicht mehr fand und wofür ich schließlich auf mein Archiv zurückgreifen musste.
Nach der Aufklärung kommt der Algorithmus
Für die Ukraineberichterstattung bedeutete das, dass Vieles, was aufgeklärt worden war – z.B. die fehlerhafte Bezeichnung „OSZE-Beobachter“ für die von der Ukraine bilateral engagierten Bundeswehrinspekteure, die für wenige Tage in den Medien korrigiert worden und dann wieder falsch verwendet worden war –, sich online nicht finden ließ, wenn man nicht die genauen bibliografischen Angaben zu den Medienbeiträgen bereits kannte; denn sie waren und sind immer noch im Netz. Ähnlich verhält es sich bei sämtlichen Themen. Boyd verwies auf die Themenfelder Konservatismus, Angstmacherei und Rassismus und konnte belegen, dass auch hier nicht die Aufklärung, sondern die Aufregung den Marker bildet, der die Auffindbarkeit in Suchmaschinen erhöht.
Die Dimension unserer (Teil-)Informiertheit durch Online-Quellen wurde mir erst durch diese Recherche zu einem bereits gut bekannten Recherchestand so richtig bewusst und, dass das nicht nur ein Thema für angehende Journalisten ist. Das gehört ebenso in Medien, in ein Schulfach Medienbildung wie auch ins lebenslange Lernen und ist ja auch manchmal schon Teil von entsprechenden Angeboten. Beim Makercamp der Genossenschaften in Wiesbaden ist die Autorin dieser Zeilen bereits der grundlegenden Frage nachgegangen, wie das Internet organisiert sein könnte, wenn nicht die Big-Tech-IT-Konzerne in den USA die Strukturen etabliert hätten; wenn also nicht Monetarisierung durch Werbung sondern evtl. öffentlich-rechtliche oder eben Genossenschafts-Modelle das WWW inspiriert und strukturiert hätten.
Die Existenz von Algorithmen, die zunächst aus ökonomischen Gründen der genannten Monetarisierung programmiert wurden, zieht eine ganze Branche von Dienstleistern im SEM (Search Engine Marketing) nach sich, die für ihre Auftraggeber in der Königsklasse der SEO (Search Engine Optimization) mit allen möglichen Tricks den Algorithmus zu überlisten suchen, so dass das eigene Online-Angebot möglichst weit oben in den organischen Suchen (nach den als Werbung erkenntlichen Anzeigen, die mittels SEA gebucht bzw. ersteigert werden) erscheint. Das, was Viele für „relevant“ halten, ist also nicht unbedingt das informativste Angebot, sondern das des technisch Versiertesten. Der Film „The Cleaners“, der auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung angesehen werden kann, zeigt weitere Gründe selektiven Faktenfindens im Netz auf und die Möglichkeiten der Einflussnahme nehmen stetig zu. Gerade die Schnittstelle zwischen Regulierungsbedarf der Online-Kommunikation auf der einen und den vielfältigen Möglichkeiten von subtiler bis offener Zensur auf der anderen, müssten auch außerhalb von Fachkreisen stärker diskutiert werden, denn damit stellen sich weitreichende demokratietheoretische Fragen. Und dafür braucht es mehr Bewusstsein in einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft, die auf Reflexion über Meinungsbildung angewiesen ist. Es heißt nicht von ungefähr zwinkernd schön böse: Wollte ich eine Leiche verstecken, täte ich es auf Seite 2 von Google.