Juan Moreno wird das wissen. Dennoch hat er ein Buch geschrieben, in dem er hart mit seinen ehemaligen Chefs im Gesellschaftsressort des Magazins Der Spiegel ins Gericht geht. Das ist ein Risiko. Der Fall Relotius hat schließlich Matthias Geyer und Ullrich Fichtner ihre Posten gekostet, allerdings auch durch ihr mangelhaftes Management. Nur kennen wir das aus der Geschichte, dass ein Negativgefühl nur allzu oft am Überbringer der Botschaft hängen bleibt. Erinnern wir uns nur beispielhaft an Gabriele Pauli, die den einstigen CSU-Granden Edmund Stoiber zu Fall brachte und weit über Bayern hinaus ein kleines Erdbeben auslöste – heute kennt sie kaum noch jemand. Dieses Risiko ging Moreno ein und das musste er auch, denn es gab einiges klarzustellen, wie der Niedergang des Fälschers Relotius vonstatten ging. Das Buch wirkt nicht wie ein Rachefeldzug, aber durchaus eine Verteidigungsschrift – dies scheint angesichts des eher negativen Tenors etwa bei meedia oder kress auch erforderlich.
Die Sache ist es wert, denn man kann aus der Aufarbeitung viel lernen – über Journalismus, das Ticken im Medienbetrieb und sich selbst. Darum ist dies eine Lektüreempfehlung für Morenos Buch “Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus” bei aller Kritik.
Um es gleich vorweg zu nehmen, ich teile Morenos Einschätzung nicht, dass sich brisante Themen am besten als Geschichte erzählen lassen – also, seine umfassende Verteidigung der Reportage, wie sie Claas Relotius durch erfundene Protagonisten und Plots pervertiert hat. Oder sagen wir besser, ich mag sie nicht – es kostet mich zuviel Zeit, die ich nicht habe. Deshalb kannte ich auch keinen der Relotius-Texte, das ist schlicht nicht mein Genre (allenfalls als Radiohörende beim Kochen). Umgekehrt unterstütze ich mit Know-How das Unternehmen Nosconte, das sich zur Aufgabe setzt eine effektive Form der Informationsvermittlung ohne schmückendes Beiwerk zu ermöglichen – wohl bewusst, dass jede Entscheidung für sprachliche und bildliche Mittel bereits ein Interpretationsvorgang ist und man eben nicht nicht framen kann. Jeder gibt seiner Darstellung eine Perspektive durch Wortwahl, Anordnung, Modus und Partikel.
Darum geht es in Morenos Buch nicht. Und während sich seine Ablaufschilderungen des Aufdeckens des Relotius-Skandals wie ein spannender Krimi mit introspektiven Passagen liest, erscheint mir der wichtigere Part der über die unreflektierten Annahmen und unbewussten Vorentscheidungen zu sein, die bei Recherche und Verarbeitung des Materials in Redaktionen gemacht werden – also die Erwartungen der Menschen, der Medienmachenden und schließlich auch der Rezipierenden; auch wenn das am Schluss des Buches etwas ausfleddert. Er macht an Beispielen deutlich, wie schwierig die Faktenprüfung im fernen Ausland und Krisengebieten ist – genau auf diese Spezialgebiete hatte sich Relotius spezialisiert. Dieser hatte zudem eine schwer durchschaubare Kommunikationsstrategie entwickelt und bereits während seiner vermeintlichen Recherchereisen Redakteure oder die Dokumentare (Faktenprüfer) im Hause durch Hinweise vorgebrieft, dasss bestimmte Dinge nicht überprüfbar sein würden. So schildert Moreno nachvollziehbar, wie die kritische Aufmerksamkeit nachlässt, wenn man quasi mit dem Reporter vor Ort im Gespräch ist. Und er erläutert, wie sehr die Aufmerksamkeit nachlässt, wenn der Grundtenor den eigenen Annahmen entspricht, in den Zeitgeist passt, wenn man sein Publikum im Auge hat und weiß, was geglaubt wird und was nicht. Genau diese Annahmen sind es, die auch Moreno lange davon abgehalten haben, überhaupt an Fälschung denken zu können, geschweige denn an eine systematische; dies in Bezug auf den preisgekrönten ehemaligen Starreporter Relotius, der die nicht unwesentliche Teile seiner Geschichten erfunden und seine Kollegen getäuscht hat – wie inzwischen der Abschlussbericht der Spiegel-Kommission belegt.
Um dieses Lügen geht es bzw. um das Aufdecken solcher Lügen bzw. darum, solche Erkenntnisse und das folgerichtig zwingende Infragestellen einer jeden Behauptung überhaupt zulassen zu können.
Alle möchten gerne ihr einmal gefertigtes Bild von etwas erhalten, das gibt Sicherheit. So ticken wir nun einmal – und nicht nur Rechte und nicht nur Blogger, wie manche Journalisten selbstherrlich meinen. Dies ist mir und anderen in Medienanalysen immer wieder aufgefallen. Deshalb entscheidet oft nicht kritische Fakten- und deren Relevanzprüfung über das Publizieren, sondern der eigene Gusto. Da rutschen Falschmeldungen à la Bellincat oder das immer wieder entlarvte und neu zitierte SITE-Institute einfach regelmäßig durch, weil sie in den Redaktionen das bestätigen, was erwartet wird. Deshalb müsste man dort ständig mit einem Warnschild vor sich selbst, den eigenen Vorkenntnissen und Wahrnehmungsfiltern herumlaufen bzw. arbeiten. Ein so großes Fass öffnet Moreno nicht, aber er macht entlang des Beispielfalls Relotius genau hierfür die Fallstricke und Mechanismen deutlich – auch anhand von Geyer und Fichtner, die wie alle gerne an ihrem Bild ihres Starreporters festhielten, zu lange schließlich. Genauso wie die Preisjurys der Journalismuspreise.
Hier kommt eventuell auch das Klassensystem zum Tragen, das Moreno in seinem Buch streift. Die sich selbst reproduzierende Klasse im Journalismus neigt natürlich noch verstärkt zum selbstbetätigenden Ritual, zumal wenn andere Perspektiven fehlen – wobei sein Verweis auf Arbeiterkind und Migrantenfamilie nicht das ist, was zwingend eine andere Perspektive eröffnet; dafür waren die auf den Leim gegangenen doch zu vielfältig. Aber es mag den eigenen Status in einer Redaktion ausmachen, wenn man es denn geschafft hat dorthin zu kommen und nun Kritik übt: Man sägt nicht unbedingt an dem Ast, auf den man selbst vielleicht mühsam gelangt ist. Insofern sollte man seinem Hinweis auf Marco Maurer folgen, der sich mit dieser Thematik auseinander setzt. Als Arbeiterkind kann auch ich davon berichten, dass es viel mehr subtile Schranken und Rückhaltemechanismen gibt, als die von der herrschenden Klasse wahrgenommenen – ich weiß, das klingt marxistisch, das müssen wir hier um der Erkenntnis willen ertragen. Notfalls kann man es auch detailliert bei Pierre Bourdieu oder Etienne Balibar nachlesen. Relevant hier ist jedoch vielmehr, dass Moreno durch den direkten Kontakt mit Relotius und dessen Vorgehen in der Recherche bzw. dem “Zusammenschreiben” des Textes von “Jägers Grenze” auf Widersprüche stieß und denen schließlich nachgegangen ist.
Besonders wichtig ist, wenn es um die Glaubwürdigkeit von Medien geht, Verschwörungstheorien zu begegnen. Viele der geschilderten Prozesse sind unbewusst ablaufende Mechanismen. Es gibt nicht zwingend die Vorgabe, was und wie recherchiert werden soll oder was nicht gebracht werden darf – so Moreno und dies schildert auch Walter van Rossum so eindrücklich in seinem Büchlein Die Tagesshow. Mir erscheint es darum wichtiger, für die unbewussten Mechanismen und Wahrnehmungsfallen ein Bewusstsein zu schaffen, als darum die Menschen dafür zu verurteilen. Damit könnte das Buch als Einladung verstanden werden, sich mit diesen subtilen und tückischen Reflexen auseinander zu setzen, die wesentlich dazu beitragen, dass heute ein allzu enger Korridor der Mainstream-Meinung(en) vorherrscht, die Debattenkultur der polarisierten Beschuldigungsmaschinerie gewichen ist.
Natürlich kann man jetzt, um Morenos Ausführungen nicht ernst nehmen zu müssen, in genau dieser Manier ad hominem alles abtun, was er beobachtet hat. Dazu könnten seine Fehler dienen, die im Buch auszumachen sind: Seine eher naive Definition von Fake-News, seine schwache Adjektivdeklination, bis hin zu leicht vermeidbaren Tippfehlern (bei „Maurer“ fehlt ein Buchstabe im Namen). Auch Morenos Einschätzung, dass in Syrien keine Journalisten recherchieren und von dort berichten könnten, kann leicht als Mythos falsifiziert werden – allein Karin Leukefeld beweist schon das Gegenteil.
Und ob er am Ende unbedingt dem dramaturgischen Reflex hätte nachgeben sollen, um anhand einer subjektiven Beobachtung mit anekdotischem Charakter über den Aufenthaltsort von Relotius diesem die Charaktereigenschaft des unverbesserlichen Lügners zuzumessen, darf man auch kritisch sehen. An der Stelle erinnert Morenos Text an eben jene von Relotius, die der Buchautor auseinandernimmt und die ebenso dazu neigen, in einer nüchternen Pointe das Vorherige gleichzeitig mit einem Federstrich zusammenzufassen und das Weitere anzudeuten. Dafür ist die Person Relotius nicht wichtig genug – Relotius als Symptom allerdings sehr wohl. An dieser Stelle sollte es gemäß dem Untertitel von Morenos Buch um den Journalismus an sich und dessen Fortentwicklung gehen und um die Frage, wie man mit oder ohne gut ausgestattete Dokumentation, die den Spiegel nicht vor Schaden bewahren konnte, in Zukunft nicht dem unterliegt, was man aus Redaktionen so gerne Bloggern vorwirft: nämlich, dass sie nur das zur Kenntnis nähmen, was in ihr Konzept passt.
Juan Moreno hat mit dem Buch sein Zeugnis vorgelegt, das eines gewissenhaften Journalisten. Ob ihn seine Auftraggeber dafür schätzen, wird die Zeit zeigen. Sie sollten es tun und das Publikum erst recht. Aber nicht, um den Journalismus per se in Bausch und Bogen der Unseriosität zu bezichtigen, sondern um den eigenen Blick zu schärfen: Denn die Rezipierenden unterliegen den gleichen Wahrnehmungsmechanismen und interpretieren gerne das in die Berichterstattung hinein, was sie erwarten und sind somit selbst Teil des Systems.