Das 9 Euro Ticket

Das 9 Euro Ticket, drei Monate circo massimo bzw. Apps überall
Autorin Susanna Lieber, 25.09.2022 –

Nach gefühlten 2 Jahren im Dauerlockdown überraschte die Bundesregierung die Bevölkerung mit einem Mobilitätsgeschenk. So manch einer fragte sich allerdings, wie man den vom Gesundheitsministerium empfohlenen Mindestabstand einhalten soll, wenn ganz Deutschland auf Achse geht. Hämische Stimmen riefen: Züge als „Covid-Mühle“ bzw. „Covid-Schleuder“, „Superspreadereventfahrten“ oder einfach nur „Geiz ist geil“ – egal – wir fahren, egal unter welchen Bedingungen. Die Sinnhaftigkeit dieses Steuergeschenks erschloss sich somit nicht gleich von Anfang an. Nannte man das ganze doch im Amtsdeutsch „Entlastungspaket II“. [1] Und die Regierungserklärung lautete „Wir lassen niemanden allein“. Wahrlich – allein war man in den Zügen während dieser drei Monate wirklich nicht! Und das bei fast 33 Grad Celsius im Schatten. Und mit FFP2 Maskenpflicht im Zug. Hier nun eine kleine Schilderung der Erfahrungen aus Berlin bzw. aus dem Zentrum des mobilen Wahnsinns.
Es war, als wenn alle genau dieselbe Idee gehabt hätten! Wir fahren dahin, wo wir noch nie gewesen sind bzw. wo wir sonst niemals hinfahren würden oder wo wir schon lange nicht mehr waren – oder einfach nur: wir fahren.
Die erste Tour ging nach Magdeburg. Beim Betreten des Bahnsteigs, Bahnhof Zoo, war zu lesen: Zug fällt aus. Welches heißt, eine Stunde warten auf den nächsten. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig stand ein Zug nach Dessau. Also rein da, ist ja egal, wo man hinfährt. Dieser Zug wurde allmählich sehr voll, denn der geübte Pendler wusste etwas, was uns unbekannt war; man kann auch über Dessau nach Magdeburg fahren. Wir verfügten ja auch nicht über die entsprechende Bahn-App. Für die Unbedarften kam dann die Ansage, dieser Zug hält in Berlin Wannsee und wer nach Magdeburg will, solle da umsteigen. Was will man mehr. Alle Wege scheinen nach Rom bzw. Magdeburg zu fahren und zu Otto I., auch Otto der Große genannt, der im Magdeburger Dom beerdigt wurde. [2] Die Rückfahrt ging reibungslos. Es gab Sitzplätze für alle.
Die nächste Fahrt ein paar Tage später gestaltete sich etwas anders. Vor Abfahrt verkündete ich über Textnachricht meinen Freunden, dass ich nach Jerichow fahren würde. Vor allem aus Süddeutschland kamen ungläubige Kommentare wegen der Destination, und ob denn das 9 Euro Ticket bis zum Jordan gelten würde?! Dieses Missverständnis konnte aufgeklärt werden. Es handelt sich um einen Ort ca. 118 km entfernt von Berlin, das Kloster Jerichow in Sachsen-Anhalt aus dem 12. Jahrhundert, in Backsteinbauweise errichtet und somit eine der ersten Backstein-Monumentalbauten in Norddeutschland. [3] 
Die Hinfahrt war etwas kompliziert. Wieder – der Zug in Richtung Magdeburg – allerdings diesmal rammelvoll. Trotzdem war es möglich in letzter Sekunde einen Sitzplatz zu ergattern. Andere standen im Gang. Kurz vor dem letzten Bahnhof, bevor man in den Bus umsteigt, blieb der Zug stehen mit dem Hinweis, die Lok sie überhitzt und man müsse jetzt warten, bis sie wieder abgekühlt ist. Dazu wurde die Klimaanlage abgestellt. Der Norddeutsche sagt „wat mutt, datt mutt“. Es wurde nur recht warm und stickig. Wieder ein Tag mit 33 Grad Celsius im Schatten, leider nicht im Schatten des Zuges.
Irgendwann war Weiterfahrt und die Ankunft in Burg/bei Magdeburg. Dort sollte theoretisch alle halbe Stunde der Bus zum Kloster fahren. Der Busfahrplan war von seiner graphischen und inhaltlichen Gestaltung her für Ortsfremde allerding nicht lesbar. Man möchte ja nicht sagen, früher war alles besser, aber früher gab es mal sowas wie eine strukturelle Übereinkunft, wie ein Fahrplan leserlich und verständlich aussehen sollte. Heute gilt, Hauptsache schön bunt und möglichst sinnlos. Wann ging das eigentlich los, dass die Form wichtiger als der Inhalt wurde?
Trotzdem, großes Lob, man konnte beim Busunternehmen anrufen und fragen, wie denn dieser Plan zu deuten sei, wir seien ja nicht von hier. Und es sprach eine natürliche Person mit uns, jemand, der freundlich Auskunft gab! Gleichzeitig gab es natürlich die Aufforderung, sich die App herunterzuladen. Dann wären wir ohne Nachfrage komplett orientiert.
Die Besichtigung des Klosters verlief bei inzwischen über 40 Grad Celsius reibungslos.
Die Rückfahrt stellte eine größere Herausforderung dar. Der Zug zurück nach Berlin kam mit Verspätung an und war unzumutbar voll. D.h. alle Sitzplätze waren belegt, auf allen Treppen und Gängen standen die Fahrgäste eng gedrängt. Wirklich und wahrhaftig wie in einer Sardinenbüchse. (Merke: FFP2-Maskenpflicht!) Zusätzlich überall Berge von Koffern. Vor Burg war ein ICE ausgefallen und man hatte die Fahrgäste des ICEs einfach in die Regionalbahn gesteckt, damit sie weiterbefördert werden. Die Aircondition hatte längst aufgegeben, die Menschenmassen zu bearbeiten. Von da an ging es nur noch darum, die ca. 1,5 Stunden Fahrt durchzuhalten, um den erstbesten Bahnhof in Berlin zur Flucht zu nutzen.
Eine Dame, die sich kurz vor einer Ohnmacht in die 1. Klasse gesetzt hatte, sollte 60 Euro nachzahlen. Als sie ihr Alter nannte, welches ebenfalls mit 60 begann, verzichtete man großzügig darauf.
Im Nachgang betrachtet stellte sich heraus, dass diese Art von Fahrten keine Sonderfälle waren. Zu wenige Wagen, zu wenig Personal, ein völlig überlastetes System, Fahrdienstleiter am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Sämtliche Bitten der Regionalbahnen, man möge in die vollen Züge keine Fahrräder mitnehmen, wurden ignoriert. Man kann es ja mal versuchen! Manchmal wurde dann die Strecke, auf der man befördert wurde, allerdings sehr kurz: ganz schlaue Radfahrer, die in Richtung Norden fahren wollten, stiegen schon am Berliner Bahnhof Südkreuz ein (da sind die Züge noch leer) und wurden an der übernächsten Station, am Hauptbahnhof, alle wieder aus dem Zug expediert, weil sonst die normalen Passagiere nicht befördert werden konnten.
Der Behindertenverband beschwerte sich, weil Menschen im Rollstuhl einfach auf dem Bahnsteig zurückgelassen wurden, da sie nicht mehr in den Zug passten.
Es konnte aber noch schlimmer werden. Auf der Rückfahrt von Thüringen an einem der letzten Tage der Gültigkeit des Tickets war der Zug wieder extrem voll und gleichzeitig waren Toiletten kaputt. Nicht funktionierende Toiletten sind keine Seltenheit. Es gibt bei fahrenden Zügen nicht genug Personal für die Reinigung und technische Wartung – also wird einfach zugeschlossen. Jedenfalls entwickelte sich die Situation für einen meiner Mitreisenden als so dringlich, dass dem Mann nichts anderes übrigblieb, als bei einem Halt sich durch die Massen zu drängen, an die Tür zu stellen und verzweifelt aus dem Zug zu pinkeln. Die Fahrdienstleiterin, die auf dem Bahnsteig stand, rief ihm zu, warum er nicht in den anderen Teil des Zuges gegangen sei? Da wäre eine Toilette noch ok. Allerdings gab es keine Durchgangswagen mit Türen! Wie hätte er da hinkommen sollen?
Wer einmal aussteigt, kommt in den Zug nicht wieder rein!
Was soll uns dabei eine App bitte helfen?
Apps dienen nur zum Sammeln von Daten der Nutzer, entweder zur Nutzung der entsprechenden Firma oder zum Weiterverkauf. Mit Infomieren hat das eher wenig zu tun. Und die Probleme des Bahnverkehrs lösen sie auch nicht. Egal ob BVG, der S-Bahn, DB und in welche Richtung auch, immer und überall Apps.
Denn Fahrpläne auf den Bahnsteigen sind doch veraltet!
Das Ganze geht so weit, dass die DB Reisende mehr oder weniger zwingen wollte, die DB App herunterzuladen, damit man die Wagenreihung des ICE sehen kann. Die Aushänge waren plötzlich verschwunden und die elektronische Zuganzeige mit Wagenreihung auf dem Bahnsteig ging erst Wochen später in Betrieb. Denn auch da gilt, wer erstmal die App installiert hat, der deinstalliert sie später kaum noch.
Eine App hilft auch nicht bei der Verkehrswende, die ja durch das 9 Euro gefördert werden sollte.
Dieses Experiment ging vor allem auf Kosten der Angestellten im Bahnverkehr und auf die Nerven der Pendler, die diese Züge regelmäßig benutzen müssen.
Dass das 9 Euro Ticket ein voller Erfolg war, wird sich noch herausstellen. [4].
Das Ziel war (neben der finanziellen Entlastung der Pendler und generell der ÖPNV-Nutzer), mehr Menschen zur Benutzung des ÖPNV zu animieren. Dazu gehört aber mehr, als nur ein billiger Preis.
Was als Entlastung für alle geplant war, kam besonders denjenigen zugute, die unter finanziellem Druck stehen: vielen Menschen in Armut, Alleinerziehenden, Geringverdiener und anderen Personen in prekären Lebenslagen. Diesen Menschen habe das 9-Euro-Ticket „einen enormen Gewinn an Teilhabechancen“ gewährt. [5] Inzwischen ist aber auch offensichtlich, dass ein höherer Preis für diese Zielgruppe wiederum kaum erschwinglich wäre.
Die Aufforderungen, das Auto abzuschaffen, und Sharing-Angebote als Ergänzung zur Bahn zu nutzen (oder auch E-Roller, E-Fahrräder etc.) sind gleichzeitig wiederum damit verbunden, dass wir alle schön brav eine App herunterladen, unsere Daten dabei hinterlegen und zur Analyse zur Verfügung stellen. All diese „Ergänzungsangebote“ machen aus dem Fahrer einen Werbebotschafter für diverse Fahrzeughersteller. Kein Leasingsystem im Bereich Auto arbeitet kostendeckend. Vielmehr geht es nur darum, möglichst viele VW oder BMW etc. im Straßenbild zu haben, damit die Marke sichtbar ist. In Berlin wird den Autobesitzern vorgeworfen, ihre Wagen würden die meiste Zeit nur am Straßenrand stehen und den öffentlichen Raum sinnlos besetzen. Es stellt sich die Frage: Wo stehen denn die Autos der Leasingfirmen? Im Himmel? Diese Wagen nehmen genauso Platz ein und werden von der Frequenz her auch nicht öfter genutzt als der Privatwagen. Und sie stehen da zusätzlich!!! zu den Autos, die normale Menschen, die in Berlin und Umgebung wohnen, nutzen.
Wenn ich Leasingsysteme akzeptiere, werde ich dazu gezwungen mit spezifischer Werbung herumzufahren und auch dazu, über eine App Zugang zu meinen persönlichen Daten zu gewähren.
Ich stimme somit einer Verkehrswende zu, die vor allem eine Informationswende ist.
Da behalte ich doch lieber mein 10 Jahre altes Auto mit einem Minimum an Elektronik und habe wenigsten etwas Privatsphäre! Und zusätzlich dazu mein ebenfalls schon etwas überaltertes Fahrrad. Das ist zwar konsum-unfreundlich, aber gerade deshalb dann doch wieder umweltfreundlich.
Die 9 Euro Ticket-Aktion hat 2,5 Mrd. Euro gekostet. [6] 
Aber vielleicht wäre es gut gewesen, dieses Geld in bessere Züge und Personal zu investieren? Oder in altmodische Fahrpläne, die jeder lesen kann?


[1] Die Bundesregierung: Gesetzliche Neuregelungen Juni 2022. In bundesregierung

https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/gesetzliche-neuregelungen-juni-2022-2041624 (aufgerufen am 09.09.2022)

[2] Landeshauptstadt Magdeburg: Otto Stadt Magdeburg (2012 – 2022). In magdeburg

https://www.magdeburg.de/index.php?ModID=7&FID=557.2723.1&object=tx%7C557.2723.1 (aufgerufen am 09.09.2022)

[3] Kulturstiftung Sachsen-Anhalt: Kloster Jerichow (2022). In kloster-jerichow

https://kloster-jerichow.de/museum/klosteranlage (aufgerufen am 09.09.2022)

[4] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (2022). In bmvi

https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/K/9-euro-ticket-beschlossen.html

(aufgerufen am 09.09.2022)

[5] Christian Cohrs: Wie Einkommensarme das 9 Euro Ticket nutzen (30.08.2022). In futuremoves.

https://futuremoves.com/9-euro-ticket-nachfolge-einkommensarme-hvv/

(aufgerufen am 09.09.2022)

[6] Phillip Behm: Mit dem 9 Euro Ticket am Ziel vorbei (11.07.2022). In steuerzahler

https://steuerzahler.de/aktuelles/detail/mit-dem-9-euro-ticket-am-ziel-vorbei/ (aufgerufen am 09.09.2022)

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