Wählen mit 16 – Stimmungswandel bei der Jugend

Autorin Diplom-Politologin Susanna Lieber, 20.07.2024

Wählen mit 16 – eine Nachlese

Junge Menschen in Deutschland stehen ihrer Zukunft zunehmend skeptisch gegenüber. Vor allem die Nachwirkungen der Covid-Maßnahmen in der Psyche von Kindern und Jugendlichen sind viel tiefgreifender als gedacht, denn das langfristige Schließen von Kitas und Schulen und Online-Unterricht haben Spuren hinterlassen. Teenager und junge Erwachsene sind ängstlich, was die Zukunft betrifft und unzufrieden mit der politischen Situation.

Isolationserfahrung

Im Jahr 2019 gaben rund 77 Prozent der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, mit der Demokratie in Deutschland sehr bzw. eher zufrieden zu sein.[1] Diese Bild hat sich gewandelt. Die Corona-Maßnahmen und die daraus resultierende Isolationserfahrung und ein bis heute noch anhaltendes Gefühl der Einsamkeit scheint autoritäre Einstellungen zu befördern. Wer sich einsam fühlt, fühlt sich auch unverstanden, da er von der Gesellschaft abgeschnitten ist. Einsamkeit macht misstrauisch. Und das hat Auswirkungen auf Politik und Demokratie. Eine Studie von 2023 fand heraus, dass die Aussagen zwischen einsamen und nicht-einsamen Kindern und Jugendlichen, wie „Ich bewundere Menschen, die die Fähigkeit haben, andere zu beherrschen“ Unterschiede aufweisen (Einsame: 46 %, Nicht-Einsame: 35 %). Ein Drittel der Einsamen geben an, einige Politiker hätten es verdient, wenn die Wut gegen sie auch schon mal in Gewalt umschlägt. Von den als „Nicht-Einsam“ eingestuften stimmt dieser Aussage ein Viertel zu. Etwa stimmen 36 % der einsamen Jugendlichen der Aussage zu, dass geheime Gruppen die Gedanken der Menschen ohne deren Wissen kontrollieren (Nicht-Einsame: 24 %), ein Indikator für Verschwörungsmentalität. Obwohl viele Jugendliche eine klare politische Meinung haben, herrscht eine gewisse Positionierungsangst bei Jugendlichen („Ich vermeide es, mit Freunden und Bekannten über Politik zu sprechen, um nicht in Streit zu geraten“), die bei einsamen Jugendlichen deutlicher ausgeprägt ist (51%, Nicht-Einsame: 37%). Insgesamt schätzen die Befragten ihre politische Selbstwirksamkeit als gering ein. Der Anteil derjenigen, die sich als politisch selbstwirksam einstufen, ist bei einsamen Jugendlichen noch etwas geringer. Weiterhin glaubt nur rund ein Viertel (26 %) der Jugendlichen insgesamt, die Politik tatsächlich beeinflussen zu können. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass nur ca. 51 bis 60 der Jugendlichen die Demokratie als beste Staatsform betrachten.[2]

Die Idee des Wählens ab 16, vereinbart im Koalitionsvertrag der Ampel für die Europa-Wahl 2024 und als weiter entferntes Ziel auch für die Bundestagswahl, war durch die grundlegend positive Einstellung der Jugend der Zukunft vor 2020 gegenüber geprägt und geleitet von der Hoffnung, dass dies wie selbstverständlich auch zu einer breiteren Unterstützung ihrer Koalitionspolitik führen würde. Am 10. April 2024 unterstütze der Petitionsausschuss mehrheitlich die mit dem Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP anvisierte Absenkung des aktiven Wahlalters für Bundestagswahlen auf 16 Jahre.[3]

Wir werden sehen, ob und wann sich das ändert, denn heute sieht das Bild zu Wahlverhalten der Jugend völlig anders aus als erhofft. Sorgen um die Sicherung des Wohlstands, also ob man den Standard seiner Eltern haben wird bzw. ob man Aufstiegschancen haben wird, was die Soziologie „subjektive Deprivationsängste“ nennt, sind wichtiger als demokratische Theorien und Realitäten. Der Klimawandel bereitet Sorgen und Jugendliche sind der Meinung, dass in Deutschland nicht genug zum Schutz der Umwelt getan wird (45%). Gleichzeitig sind diejenigen in der Unterzahl, die bereit sind, für Nachhaltigkeit auch Verzicht zu üben. Finanzielle Sorgen der jungen Menschen aufgrund von Inflation (65%), teurem Wohnraum (54%) und Altersarmut (48%), aber auch die Spaltung der Gesellschaft (49%) oder die Zunahme sog. Flüchtlingsströme (41%) führen zu hoher Unzufriedenheit der jungen Generation mit ihrer Lebenssituation und den politischen Verhältnissen.[4]

Dass sich die Jugend dem rechten Spektrum der Politik zuwendet, war schon kurz vor der Europawahl 2024 bekannt. 22 Prozent der 14- bis 29-Jährigen, die überhaupt eine Parteipräferenz haben und die wählen gehen wollen, würden für die AfD votieren, wenn jetzt Bundestagswahl wäre. Das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. Die Zustimmung zur Aufnahme vieler Flüchtlinge änderte sich dazu parallel drastisch, 57 Prozent waren damals dafür, in der vorliegenden Studie sind es nur noch 26 Prozent.[5] Den Wahlerfolg der AfD bei der Europawahl 2024[6] bei jungen Menschen allein deren TikTok Videos zuzuschreiben, greift daher zu kurz. Junge Menschen sehen natürlich, was bei ihnen zuhause passiert. Auch Erwachsene sind vorsichtig geworden, was die Meinungsäußerung betrifft. 1990 waren nur 22 % skeptisch, 2023 äußern jedoch 44 % der Erwachsenen, vorsichtig sein zu müssen.[7] Eigentlich ist es egal, ob dies eine gefühlt nicht mehr vorhandene Meinungsfreiheit ist oder nicht. Es ist ein geschichtlicher Tiefpunkt für die Bundesrepublik. Die Atmosphäre in Deutschland hat offensichtlich gelitten und immer nur den rechts- bzw. linksextremen Kräften die Schuld zu geben ist billige Schuldverschiebung. Wenn Shit-Stürme im Internet bei z.B. Twitter oder X, die gezielt durch einige hundert Trolle losgetreten werden, zu salonfähigen Nachrichten in der Tagesschau aufsteigen, zeigt das jedem Zuschauer, dass Vermutungen ausreichen, um ersthafte Konsequenzen beruflicher oder persönlicher Art zu haben. Und oft genug geht es dann aber nur um einen einzigen Tweet mit den entsprechenden Antworten. Dabei sind bisher etwa 20 % der Deutschen verschiedenster Altersklassen auf X vertreten, und deren beliebteste Account ist Mesut Özil und andere Fußballer.[8]

Es ist der Eindruck entstanden, dass über viele wichtige Fragen nicht mehr offen gesprochen werden kann, egal ob es Flüchtlinge betrifft (was dafür aber auffällig oft geschieht und Medienthema ist) oder den Bau eines Autobahnabschnittes. Überall lauert die politisch korrekte Gegenwehr bzw. es scheint vielen so. Junge Menschen saugen diese Stimmung auf wie Schwämme, daher ist es nicht verwunderlich, dass große Verunsicherung herrscht. Ob die Koalitionsparteien der Ampel unter diesen Voraussetzungen immer noch weiter für das Wahlrecht mit 16 eintreten werden, wird sich zeigen.


[1] Albert, M., Hurrelmann, K., Quenzel, G. (Oktober 2019): Jugend 2019. Die 18. Shell Jugendstudie. Deutsche Shell Holding GmbH, Hamburg, Seite 3 (PDF), https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study/_jcr_content/root/main/containersection-0/simple/simple/call_to_action/links/item2.stream/1642665734978/9ff5b72cc4a915b9a6e7a7a7b6fdc653cebd4576/shell-youth-study-2019-flyer-de.pdf, aufgerufen am 17.07.2025

[2]Prof. Dr. Claudia Neu, Prof. Dr. Beate Küpper, Prof. Dr. Maike Luhmann, Michelle Deutsch, Paulina Fröhlich (08.02.23) Extrem einsam? Eine Studie zur demokratischen Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland. Das Progressive Zentrum e.V, https://www.progressives-zentrum.org/publication/extrem-einsam/, aufgerufen am 10.06.24

[3] Deutscher Bundestag, Petitionsausschuss (10.04.24), https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-997548, aufgerufen am 11.06.24

[4] Bildungsspiegel.de (24.04.24), https://www.bildungsspiegel.de/news/verschiedenes/7076-trendstudie-jugend-in-deutschland-2024-verantwortung-fuer-die-zukunft-ja-aber/?cpnb_method=cpnbCookiesDeclined&cpnb_btn_area=cookiesManager&dt=1718112334366, aufgerufen am 12.06.24, und Hg. Simon Schnetzer (2024), Trendstudie: Jungend in Deutschland 2024, https://simon-schnetzer.com/trendstudie-jugend-in-deutschland-2024/ , aufgerufen 12.06.24

[5] dpa (23.04.23), ZDF Panorama, Studie Jugendstimmung rechts, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/studie-jugend-stimmung-rechts-100.html, aufgerufen am 12.06.24

[6] wahlrecht.de (10.06.24), Europawahl 2024, https://www.wahlrecht.de/news/2024/europawahl-2024.html, aufgerufen am 12.06.24

[7] Rech, David (19.12.23), Nur 40 % der Deutschen glauben, Meinung frei äußern zu können, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-12/meinungsfreiheit-zensur-studie-freiheitsindex-deutschland-2023 , aufgerufen am 12.06.24

[8] Statista Research Department (06.05.24), Ranking der beliebteste Twitterprofile, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/70597/umfrage/twitter-accounts-nach-anzahl-follower/ , aufgerufen am 12.06.24

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